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DAS AUTISTISCHE DILEMMA – FUNKTIONALITÄT
ZU AUTISTISCH ODER NICHT AUTISTISCH GENUG
Ich stelle hier ein Konzept vor, über das ich in letzter Zeit sehr viel nachgedacht habe und das mit Funktionslabeln zu tun hat.
Ich nenne es „Das Autistische Dilemma“ und es beschreibt Folgendes:
ANDERE MENSCHEN DESIGNIEREN AUTISTEN ALS ENTWEDER ZU AUTISTISCH ODER NICHT AUTISTISCH GENUG.
SO ODER SO ERLEIDEN AUTISTEN NEGATIVE KONSEQUENZEN.
Das Autistische Dilemma basiert auf folgenden falschen Annahmen im Bezug auf Funktionalität:
1. Dass es so etwas wie „mehr“ oder „weniger“ autistisch gibt.
2. Dass „mehr“ oder „weniger“ autistisch zu sein rechtfertigt, diese so wahrgenommenen Gruppen unterschiedlich zu behandeln.
3. Dass andere Menschen mehr Recht haben, Autisten zuzuschreiben, wie beeinträchtigt sie in ihrem Leben sind, als Autisten selbst.
AUTISTEN, DIE ALS NICHT AUTISTISCH GENUG GELTEN WERDEN…
…in Autismusdingen zum Schweigen gebracht, denn „Sie können ECHTEN Autismus nicht verstehen!“.
…nicht diagnostiziert, denn „Sie wirken gar nicht autistisch!“.
…nicht ausreichend unterstützt, denn „Sie können das doch!“.
…in Gesundheitsfragen nicht ausreichend ernst genommen, denn „Sie verhalten sich nicht wie jemand, der X hat/ist!“.
…von Anderen übertönt, obwohl sie ihre eigenen Sichtweisen deutlich machen.
AUTISTEN, DIE ALS ZU AUTISTISCH GELTEN WERDEN…
…in Autismusdingen zum Schweigen gebracht, denn „Sie können das nicht verstehen!“, oder „Sie können gar nicht kommunizieren!“.
…als inkompetent abgeschrieben, denn „Sie können nicht sprechen/ihre Schuhe binden/alleine zur Toilette gehen etc.!“.
…vom Erreichen ihres persönlichen Potentials abgehalten, denn „Sie können das sowieso nicht!“.
…in Gesundheitsfragen nicht ausreichend ernst genommen, denn „Das ist nur ihr Autismus!“.
…von Anderen übertönt, ohne überhaupt in Betracht zu ziehen, dass sie eigene Sichtweisen haben.
Es ist dabei egal, welcher Kategorie man zugeteilt wird, man erleidet negative Konsequenzen.
Selbst, wenn man die Möglichkeit hat, zu beeinflussen, in welcher Kategorie man endet (z.B. durch Maskieren, oder durch offen autistisches Verhalten), man erleidet negative Konsequenzen.
Und man kann nicht außerhalb dieser beiden Kategorien existieren, weil die dritte Kategorie, in der wir alle einfach Autisten mit individuellen Hilfebedarfen sind, von Anderen verweigert wird.
Das ist das Dilemma, mit dem alle Autisten konfrontiert werden.
DAS AUTISTISCHE DILEMMA ALS TECHNIK AUTISTEN ZUM SCHWEIGEN ZU BRINGEN
Beide Optionen des Autistischen Dilemmas werden von Anderen oft aktiv genutzt, um autistische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Sie werden von schädlichen Personen angewendet, sobald ein Autist sich gegen jemanden oder etwas schädliches ausspricht.
Obwohl Menschen, die das Autistische Dilemma gegen Autisten verwenden suggerieren, dass es so etwas wie „die richtige Menge“ an Autismus gäbe, wo sie unseren Stimmen Gehör schenken würden – in Wirklichkeit gibt es diese Option für sie nicht. Für sie ist der einzige „richtige Autist“ der, der ihnen zustimmt. Und dann ist es plötzlich auch egal, wie sich der Autismus zeigt.
Das Autistische Dilemma ist ein bequemes Mittel für schädliche Menschen, weil es bedeutet, dass sie sich gar nicht erst in die Situation begeben müssen, ihre Taten oder Ansichten zu verteidigen. Das Einzige, was sie tun müssen, ist Autisten von vornherein als unfähig an der Diskussion teilzunehmen darzustellen. Autisten entweder als „zu autistisch“ oder als „nicht autistisch genug“ zu deklarieren tut genau das.
So verbleibt die vollständige Kontrolle über alles, das mit Autismus zu tun hat, bei den Anderen. Und das ist auch der Grund, weshalb sie das Autistische Dilemma überhaupt erdacht haben: um den Autismus Diskurs zu kontrollieren. Und, um Autisten zu kontrollieren.
WIE DAS AUTISTISCHE DILEMMA AUFRECHTERHALTEN WIRD
Wir sind alle schon einmal einer oder mehrerer der folgenden Aussagen begegnet. Sie alle tragen dazu bei, das Autistische Dilemma aufrecht zu erhalten. Diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig.
NICHT AUTISTISCH GENUG
„Du hast nichts mit meinem autistischen Kind gemeinsam!“
„Du wirkst gar nicht autistisch!“
„Low functioning Autisten wollen aber geheilt werden! Das kannst du nicht verstehen!“
„Du kannst gar nicht autistisch sein, weil…“
„Low functioning Autisten leiden sehr wohl unter ihrem Autismus! Das kannst du nicht verstehen!“
„Du kannst problemlos schriftlich kommunizieren, also kannst du so autistisch nicht sein.“
„Vielleicht ist ABA nicht richtig für dich – es ist aber richtig für low functioning Autisten!“
„Du kannst nicht für alle Autisten sprechen!“
„Du bist hochfunktional, also brauchst du keine Hilfe.“
ZU AUTISTISCH
„Low functioning Autisten sind eine Belastung.“
„Low functioning Autisten gehören in stationäre Einrichtungen.”
„Ihr Autismus ist zu schlimm, die kann man nicht integrieren.“
„Diese Person versteht weder Autonomie, noch Einverständnis, also entscheide ich für sie.“
„Nur Heilung kann low functioning Autisten retten.“
„Nur ABA kann low functioning Autisten helfen.“
„Wenn du das nicht schaffst, bleib halt zu Hause.“
„Ich weiß, was für sie am Besten ist.“
„Low functioning Autisten würden Aufklärungsunterricht eh nicht verstehen und sollten eh keinen Sex haben.“
„Die können ja nichtmal sprechen, also können wir gar nicht wissen, was sie denken.“
IN WIRKLICHKEIT SIND ALLE AUTISTEN GLEICHWERTIG
Obwohl Menschen, insbesondere jene in Machtpositionen, das Autistische Dilemma aufrecht erhalten, müssen wir dagegen und gegen die ihm zugrunde liegenden falschen Annahmen angehen.
Alle Autisten sind gleichwertig. Nur wenn wir gleichwertig behandelt werden, wird es jemals echte Autismusakzeptanz geben. Und nur, wenn alle Autisten gleichwertig behandelt werden, werden wir alle die Unterstützung bekommen, die wir brauchen.
Was von außen als mehr oder weniger autistisch sein wahrgenommen wird, sind in Wirklichkeit individuell variierende Hilfebedarfe. Nicht variierende Stärken von Autismus. Funktionslabel sind immer inakkurat und schädlich.
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