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SELEKTIVER MUTISMUS – DIE EINFRIERENDE ANGST DIE STIMMEN RAUBT
WAS SELEKTIVER MUTISMUS IST
Selektiver Mutismus ist eine schwere Angststörung. Sie ist durch die Unfähigkeit einer Person, in bestimmten Umgebungen und/oder mit bestimmten Personen, aufgrund schwerer Angst, nicht sprechen zu können, gekennzeichnet – während die selbe Person sprechen kann, wenn sie sich wohlfühlt, entspannt und sicher ist.
Selektiver Mutismus ist Teil des nicht-sprechenden Spektrums und ist eine Behinderung.
Selectiver Mutismus ist nicht aus anderen Gründen als schwerer Angst intermittierend nicht-sprechend/non-verbal zu werden. Es gibt noch viele weitere mögliche Gründe, warum jemand nicht-sprechend/non-verbal sein kann. Ich beobachte häufig, dass Menschen nicht-sprechende/non-verbale Erfahrungen „Selektiver Mutismus“ nennen, die nicht tatsächlich Selektiver Mutismus sind.
Besonders in der Autismus-Gemeinschaft wird aufgrund von Overload intermittierend nicht-sprechend/non-verbal zu werden häufig als „Selektiver Mutismus“ fehlbezeichnet. Bitte benutzt diesen Begriff, der eine ganz bestimmte Diagnose bezeichnet, nicht für andere Erfahrungen. Nur, weil etwas die Eigenschaft „nicht-sprechend/non-verbal“ teilt, wird es dazu nicht automatisch zu Selektivem Mutismus.
Obwohl viele diese Behinderung immer noch als Störung bei Kindern sehen, existieren auch Erwachsene mit Selektivem Mutismus. Er kann behandelt werden, und vollständige Besserung ist möglich. Allerdings werden nicht alle Menschen mit dieser Behinderung diagnostiziert, und/oder behandelt, und nicht bei allen bessert er sich teilweise oder vollständig. Daher kann diese Behinderung vorrübergehend oder dauerhaft sein.
Das Wort „selektiv“ wird oft missverstanden, als ob es hieße, dass betroffene Menschen sich aussuchen, nicht zu sprechen. Dies ist falsch und eine sehr schädliche Fehlinterpretation. „Selektiv“ bezieht sich auf „selektive Umgebungen und/oder Personen“, in denen eine Person aufgrund schwerer Angst unfreiwillig die Fähigkeit zu Sprechen verliert. Eine freie Wahl ist hierbei nicht beteiligt.
Dies ist der Grund dafür, dass ich (und viele andere Menschen mit Selektivem Mutismus) es bevorzugen, Situationsbedingter Mutismus, oder Intermittierender Mutismus zu sagen – und auch dafür eintreten, das offizielle Diagnoselabel entsprechend zu ändern.
INNERE UND ÄUSSERE PRÄSENTATION
Das sichtbare Symptom von Selektivem Mutismus ist es, nicht-sprechend zu werden. Menschen mit dieser Behinderung haben Schwierigkeiten damit, vor anderen Menschen zu sprechen. Dies kann Dinge beinhalten wie soziale Interaktionen, Telefongespräche, Gruppenarbeit in der Schule, Gruppenprojekte auf der Arbeit, Reden zu halten oder Präsentationen zu geben, laut vorzulesen, und nach Hilfe oder Anleitung zu fragen.
Wo, mit wem, wann, wie oft, und wie lange jemand nicht-sprechend wird, variiert unter Menschen mit dieser Behinderung stark. Alles, was Angst triggern kann, kann eine akute Episode auslösen (= nicht-sprechend werden).
Die Unfähigkeit zu Sprechen ist nu rein Teil von Selektivem Mutismus. Andere Symptome und Eigenschaften beinhalten:
– körperliche Angstsymptome (z.B. Bauchschmerzen, Überlkeit, Kopfschmerzen, Herzrasen, Schwitzen)
– Probleme mit Kommunikation und sozialer Interaktion
– sich nicht bewegen können, „einfrieren“
– ein leerer, eingefrorener Blick wenn getriggert
– übermäßige Schüchternheit
– übermäßige Negativität
– soziale Isolation
– Angstverhalten das als Opposition/Nicht-Konformität/Aggression fehlinterpretiert wird
– Angstverhalten das als Schüchternheit/Scham fehlinterpretiert wird
Menschen mit dieser Behinderung haben, oder entwickeln später, häufig andere Angststörungen wie Generalisierte Angststörung, soziale Angststörung, Schulangst, Trennungsangst, Phobien, und Zwangsstörungen.
Bitte beachte, dass Selektiver Mutismus unerkannt und undiagnostiziert bleiben kann, wenn Menschen ihn als extreme Schüchternheit und Introvertiertheit, oder als Opposition und Nicht-konformität fehlinterpretieren. Glücklicherweise ist die Sensibilität heutzutage besser, als in meiner Kindheit, sodass Kinder mit dieser Behinderung häufiger erkannt werden, als früher.
BEHANDLUNG
BEHANDLUNGSZIELE
Nicht-sprechend zu werden ist eines der Symptome von Selektivem Mutismus, es ist nicht die Ursache. Die Ursache ist Angst. Das Behandlungsziel sollte daher nicht sein, die Person mit Selektivem Mutismus zum Sprechen zu bringen. Das Ziel sollte sein, dass sie weniger Angst erlebt.
Das Problem hierbei ist, dass die Angst für andere Menschen meist unsichtbar ist – während das nicht-sprechend werden der sichtbare Teil ist. Menschen schließen daraus vielleicht, dass nicht-sprechend zu sein das Problem ist, nicht Angst. Behandlungen für Selektiven Mutismus zielen infolgedessen vielleicht auf die Sprache einer Person, statt auf ihre Angst. Dies kann nicht hilfreich oder schädlich sein, und richtet sich nicht auf das eigentliche Problem.
Selektiver Mutismus verschwindet gewöhnlich nicht von alleine. Zusätzlich liegt es in der Natur von Angst, schlimmer zu werden wenn sie nicht bearbeitet wird. Dies bedeutet, dass sich die zugrunde liegende Angst oft verschlimmert, ins Erwachsenenalter bestehen bleibt, und/oder sich andere Angststörungen entwickeln, wenn sie nicht bearbeitet wird.
BEHANDLUNGSANSÄTZE
Ob ein Behandlungsansatz angemessen ist, hängt immer von der jeweiligen betroffenen Person ab. Fachleute benutzen am häufigsten Verhaltensstrategien und Verhaltenstherapie. Medikamente können gegen die schwere Angst helfen. Wenn eine Person mit Selektivem Mutismus außerdem noch Sprachschwierigkeiten hat, können entsprechende Therapien helfen (z.B. Logopädie).
Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, dass es wichtig ist, dass Fachleute die Menschen mit Selektivem Mutismus behandeln, Erfahrung mit dieser Behinderung haben. Dass sie wissen, was es ist und was nicht, welche Ansätze hilfreich sind und welche schädlich. Und, dass sie auf uns hören.
Obwohl verhaltensbezogene Ansätze die versuchen, Menschen zu mündlicher Sprache zu bewegen, sehr verbreitet sind, gelten diese für viele Menschen mit Selektivem Mutismus nicht als optimale Vorgehensweise. Außerdem möchte nicht jeder Mensch mit dieser Behinderung behandelt werden. Manche haben Behandlungen hinter sich und wollen keine mehr. Manche wollen schlicht akzeptiert werden und Hilfsmaßnahmen und Hilfsmittel zur Verfügung haben.
HILFSMASSNAHMEN UND HILFSMITTEL BEI SELEKTIVEM MUTISMUS
Auch wenn man an der Angst, die Selektivem Mutismus zugrunde liegt, arbeiten kann, so sollte Behandlung niemals die einzige Reaktion sein.
Ein wichtiger, leider immer noch oft übersehener, Teil bei der Unterstützung von Menschen mit Selektivem Mutismus sind Hilfsmittel und Hilfsmaßnahmen. Egal, ob die Behinderung vorrübergehend oder dauerhaft ist, Hilfsmittel und Hilfsmaßnahmen bedeuten bessere Lebensqualität.
BEISPIELE FÜR HILFSMASSNAHMEN UND HILFSMITTEL:
1. Aufklärung über Selektiven Mutismus (Familie, Freunde, Schule, Arbeit, Fachleute, Gesellschaft)
2. Akzeptanz von nicht-sprechenden Menschen.
3. Kein Druck zu Sprechen.
4. Alternative Kommunikationsmethoden.
5. Alternativen zu mündlicher Teilhabe in Schule, Arbeit, Events, usw.
6. Alternativen zu Telefongesprächen (z.B. Email)
7. Lass Menschen ausreichend Zeit zu antworten.
8. Vorhersehbarkeit kann Angst lindern (z.B. besuche eine neue Schule bevor die Schule offiziell beginnt)
9. Offizielle Unterstützung, Fachpersonal, Schulbegleiter, usw.
10. Manchen Menschen kann es helfen, woanders oder mit anderen Menschen neu anzufangen. (Für andere kann dies zusätzliche Probleme bedeuten.)
PERSÖNLICHE ERFAHRUNG MIT SELEKTIVEM MUTISMUS
Ich habe Selektiven Mutismus. Ich war zu jung als er anfing, um mich daran zu erinnern, ob ich jemals ein Leben ohne Selektiven Mutismus hatte. Mein größtes Problem, wie bei vielen anderen, war die Schule. Andere Umgebungen und Interaktionen mit Menschen außerhalb meines Zuhauses und meiner direkten Familie waren für mich aber ebenfalls sehr schwierig.
Menschen haben meinen Mutismus häufig als Schüchternheit oder Unwollen fehlinterpretiert. Ich wurde weder diagnostiziert, noch behandelt oder unterstützt während meines Aufwachsens. Dies führte dazu, dass die Behinderung in mein Erwachsenenalter bestand. Es führte auch dazu, dass meine zugrunde liegende Angst unbehandelt blieb, sich verschlimmerte, und sich zu einer Generalisierten Angststörung entwickelte.
Für mich betrifft Selektiver Mutismus nicht nur mündliche Sprache, sondern auch schreiben, tippen, und mit meinem AAC Gerät zu sprechen. Oft betrifft sie sogar non-verbale Kommunikation wie Nicken und Kopfschütteln. Meist ist es für mich besser, so wenig wie möglich zu kommunizieren, bis die Welle der Angst weit genug abgeebbt ist.
Für mich ist Selektiver Mutismus ein sehr eindeutiges Gefühl des plötzlich komplett eingefroren Seins. Ich weiß, was ich sagen möchte, kann aber die Worte nicht aus meinem Mund zwingen und kann mich oft gar nicht bewegen.
Die überwältigende Angst ist die dominante Erfahrung. Ich bin mir außerdem der Reaktionen anderer Menschen sehr deutlich bewusst. Besonders, wenn sie versuchen, mich zum Sprechen zu bekommen, mich aufziehen oder sich über mich lustig machen, in Frage stellen, warum ich nicht spreche, usw.
Wie besorgniserregend mein Mutismus für mich ist, hängt großteils davon ab, in welcher Situation es passiert, wo, und mit wem. Ein häufiger Trigger ist, mit Fachleuten umgehen, und für mich selbst eintreten zu müssen. Wenn ich dann nicht sprechen und auch sonst nicht kommunizieren kann, kann das sehr besorgniserregend sein. Es nimmt mir meine Autonomie und Selbstvertretung, macht mich von der Gnade Anderer abhängig. Es führt außerdem häufig zu Problemen wie unzureichender Gesundheitsversorgung, fehlender Unterstützung, unerfüllten Bedürfnissen, und mehr.
Hier sind ein paar andere Menschen mit Selektivem Mutismus, die ihre Erfahrungen teilen:
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