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SELEKTIVE MUTISMUS HÖLLE
DAS STILLE SCHREIEN
Mein Selektiver Mutismus ist das stille Schreien.
Außen bin ich still.
Innen drin schreie ich.
Dies ist ein kleiner Einblick in mein Leben mit Selektivem Mutismus. Mein Leben damit, um Kontrolle über meine Angst und Sprache zu kämpfen.
Ich weiß nicht genau, wann mein Selektiver Mutismus sich zuerst entwickelt hat. Ich kann mich nicht erinnern, jemals nicht selektiv mutistisch gewesen zu sein. Selektiver Mutismus war immer meine Normalität. Ich dachte immer, dass alle Menschen manchmal Angst davor haben, zu sprechen, aber dass Andere nur stärker waren als ich und es besser kontrollieren konnten. Ich dachte, ich sei gestört. Ich dachte, dass ich sprechen können sollte, weil alle anderen es konnten, und niemand mir je sagte, dass ich eine Behinderung habe.
Menschen haben mir oft gesagt, ich sollte mich zusammen reißen. Doch endlich „einfach reden“. Ich bin für mein Nichtsprechen oft nachgeahmt, unter Druck gesetzt, verspottet, und bestraft worden. Menschen haben meinen Selektiven Mutismus oft als absichtliches Nichtsprechen fehlinterpretiert. Wahrscheinlich, weil ich zu Hause selten Sprachangst hatte, und sie auch außerhalb nicht überall und immer hatte.
Natürlich ist genau das für Selektiven Mutismus normal, und der Grund, warum er überhaupt erst „selektiv“ genannt wurde – aber Menschen wissen oder verstehen dies oft nicht. Wenn man in einer Situation sprechen kann, dann glauben sie, dass Nichtsprechen in allen anderen Situationen Absicht sein muss.
Ich bin oft als unhöflich und arrogant abgestempelt worden. Zu anderen Zeiten bin ich als sehr schüchtern, oder zu beschämt zum Sprechen fehlinterpretiert worden. Diese Anschuldigungen haben mich verletzt und wütend gemacht, aber ich konnte mich gegen sie wegen meinem Mutismus nicht wehren. Was für andere Menschen wiederum ihre Anschuldigungen bestätigt hat – ein Teufelskreis.
Ich hatte über meine gesamte Kindheit und Jugend hinweg eine Behinderung, die ich nicht verstand, und wurde damit komplett allein gelassen.
EIN LEBEN IN ZWEI WELTEN
In meiner Kindheit und Jugend habe ich in zwei Welten gelebt. In der Freien Welt war ich stark, mutig, ich selbst – und, abgesehen von autistischen Sprachschwierigkeiten, sprechend. In der Mutismus Welt war ich verängstigt, eingefroren, verloren – und oft stumm.
Die Freie Welt war außerhalb der Schule, und weg von anderen Situationen, die meinen Selektiven Mutismus ausgelöst haben. Die Mutismus Welt war Familientreffen mit Menschen außerhalb meiner Kernfamilie. Sie war fachliche Situationen wie etwa Arzttermine. Sie war offizielle soziale Interaktionen wie beispielsweise mit Personal in Geschäften. Aber vor allem war die Mutismus Welt Schule. Schule war die Mutismus Welt Hölle.
Ich erinnere mich genau daran, wie in der Mutismus Welt zu sein sich körperlich anfühlte. Da war ein sinkendes, kaltes Gefühl in meinem Brustkorb. Eine Art Schweben in meinem Kopf, als ob ich gerade aus einem Traum aufgewacht war. Manchmal war es so stark, dass es sich anfühlte, als ob ich immer noch träumte.
Da war mein rasender Herzschlag, aber anders als während körperlicher Aktivität. Als wäre mein Herz weiter in die Tiefen meines Körpers gezogen worden. Meine Sinne fühlten sich an, als ob zwischen mir und der Welt eine unsichtbare Wand gewesen wäre. Und alles war gleichzeitig verschwommen und außergewöhnlich klar. Zeit fühlte sich an, als wäre sie verlangsamt worden. Ich konnte die Sekunden in meinem Körper hinweg pumpen spüren. Sie zogen sich wie Klebstoff.
Und dann war da natürlich noch meine Sprache. Oder eher der Mangel daran. Meine Worte steckten als Gedanken in meinem Hirn fest. Egal, wie sehr ich mich bemühte, ich konnte sie nicht aus meinem Mund zwingen. Mein Rachen, meine Zunge, meine Lippen funktionierten nicht mehr. Oft konnte ich gar keinen Ton hervorbringen. Und häufig war ich so eingefroren, dass ich nicht einmal nicken, den Kopf schütteln, oder sonstwie meinen Körper bewegen konnte.
DIE MUTISMUS WELT BETRETEN
Ich erinnere mich daran, wie es sich angefühlt hat, von der Freien Welt in die Mutismus Welt und wieder zurück zu treten. Damals machte ich diese Reise jahrelang mindestens zweimal täglich, wenn ich morgens zur Schule, und nachmittags wieder nach Hause ging. Ich erinnere mich an diesen Übergang auch von anderen Situationen, aber Schule ist besonders deutlich.
Meine Schule hatte einen rot-weißen, metallenen Zaun, der entlang des gesamten Schulgeländes verlief. Er trennte den Bürgersteig von der Straße. Eine lange Reihe metallener Zaunteile, die Farbe alt und an vielen Stellen abblätternd. Der Zaun war dazu da Schulbus nehmende Menschen sicher in und aus den Fahrzeugen zu lotsen. Er hatte Lücken für die Schulbustüren, breit genug, dass beschulte Personen einzeln nacheinander hindurch gehen konnten.
Ich fuhr mit dem Rad zur Schule. Für mich war der Schulbuszaun die Grenze zur Mutismus Welt. Und doch, so eindeutig diese Grenze auch war, war ich mir dessen damals nicht bewusst. Ich verstehe es erst jetzt. Mein Körper fühlte sich stark an, frei, lebendig, während ich mich außerhalb des rot-weißen Zauns befand. Selbst auf dem Weg zur Schule noch, obwohl ich wusste, was mir bevor stand.
In späteren Jahren war meine Schulangst dauerhaft, aber sie übernahm dennoch erst dann meinen Körper und meine Sprache, wenn ich diese rot-weiße Grenze überschritt. Selbst beim Überqueren der Straße, die am Schulgelände entlang verlief, ging es noch. Aber sobald ich die große, offene Lücke im Schulbuszaun durchschritt und auf den Schulhof trat, befand ich mich in der Mutismus Welt.
LEIDEN UND ÜBERLEBEN IN DER MUSTISMUS WELT
In der Mutismus Welt zu sein hieß nicht, dass ich niemals jemals irgendwie sprechen konnte. Es hieß, dass die Angst dauerhaft war. Dass ums Sprechen kämpfen zu müssen dauerhaft war. Ich konnte jeden Augenblick stumm werden, und wurde es oft. In der Mutismus Welt zu sein, bedeutete die andauernd drohende Gefahr, stumm zu werden, die ich in meinem Körper spüren konnte. Es bedeutete andauernde, endlose Bedrängnis.
Schule war ein einziger Selektiver Mutismus Kampf (ganz davon abgesehen, außerdem autistisch zu sein). Aber das absolut Schlimmste der Mutismus Welt war Biologie in der 5., 6., und 7. Klasse – deshalb teile ich dies hier.
Mein Biologielehrer hatte folgende Angewohnheit: am Ende jeder Unterrichtsstunde nannte er uns mehrere Seiten in unserem Lehrbuch, die wir zur nächsten Stunde lernen mussten. Am Anfang der nächsten Stunde wählte er dann einen von uns aus, der diese Seiten mündlich vortragen musste. Dann stellte er eine Reihe von Fragen zum Inhalt. Unser Lehrer nannte diese Vorträge „Wiederholungen“. Wiederholungen wurden benotet und machten einen großen Teil unserer Biologienote aus.
Die Meisten von uns hatten Angst davor, zur Wiederholung aufgerufen zu werden. Wir wussten alle, dass wir alle irgendwann drankommen würden – aber wir wussten nie, wann es uns treffen würde. So stellte der Lehrer sicher, dass wir alle jedes Mal Angst hatten. Dass wir alle jedes Mal die Seiten lernten, die er uns aufgab. Wenn sie aufgerufen wurden, trugen alle vor, was sie konnten, und beantworteten die Fragen des Lehrers so es ging. Alle, außer mir.
Wann immer ich aufgerufen wurde, fror ich schlicht ein. Ich konnte nicht sprechen. Ich konnte meist noch nicht einmal „Ja.“ oder „Nein.“ antworten, wenn der Lehrer mich fragte, ob ich etwas sagen würde, oder ob ich gelernt hatte. Wenn ich Glück hatte, konnte ich so eben nicken, oder meinen Kopf schütteln.
Die Furcht, die ich während dieser Befragungen durchlitt, während die ganze Klasse mich anstarrte, der Lehrer mich aufzog und verspottete, mich drängte irgendetwas zu sagen, mir mit einer weiteren 6 drohte – es war unbeschreiblich. Und dann wieder eine 6. Jedes Mal.
Ich hatte keine Schwierigkeiten damit, in schriftlichen Tests gute Noten zu bekommen. Aber die Sechsen von meinen Wiederholungen, zusammen mit den Sechsen für meine mündliche Mitarbeit (die aufgrund meines Mutismusses quasi nicht-existent war), bedeuteten, dass ich immer wieder eine 4 in Biologie bekam, solange ich diesen Lehrer hatte.
Natürlich hatte ich in anderen Fächern das gleiche Problem. Meine schriftlichen Noten waren meist Einsen und Zweien, aber meine mündliche Mitarbeit war quasi nicht vorhanden. Mündliche Mitarbeit war mindestens 20% aller Noten, und fangen wir mit Gruppenarbeiten und Referaten gar nicht erst an. Dies bedeutete, dass ich immer schlechtere Noten bekam, als ich eigentlich verdiente.
LEBENSRETTENDE VERÄNDERUNGEN UND WIE ES BESSER WURDE
Nach mehreren Jahren Horror, bekam ich eine andere Biologielehrerin – und alles wurde anders. Meine Lehrerangst in Biologie verschwand fast vollständig. Meine Note verbesserte sich von einer 4 auf eine 2. Sogar meine mündliche Mitarbeit wurde besser, auch wenn meine nun entwickelte Schulangst, mein Autismus, und mein immer noch vorhandener Selektiver Mutismus es mir nicht erlaubten, so viel mitzuarbeiten, wie ich eigentlich wollte und unter anderen Umstände auch gekonnt hätte.
Ich wurde älter. Ich ging zu einem wöchentlichen Sportangebot, das mich bestärkte. Im Bezug auf meinen Selektiven Mutismus wurden die Dinge besser. Ich fühlte mich von lehrenden Personen nicht mehr so stark eingeschüchtert. Anstatt andauernd in Angst vor ihnen zu leben, wurde ich immer öfter wütend darüber, wie sie mich behandelten. Diese Wut hat mir geholfen.
Ich dachte, ich hätte die Biologiehölle endlich hinter mir gelassen, als ich in der 11. Klasse erfuhr, dass mein alter Lehrer wieder mein Lehrer werden würde. Das war kein guter Tag. Ich war in Panik. Ich dachte darüber nach, wegzulaufen. Ich dachte darüber nach, mich umzubringen. Pläne machte ich für beides, durchführen konnte ich letztendlich weder noch.
Und dann wurde ich wütend. Wütend auf mich selbst, weil ich so schwach war. Weil ich solche Angst hatte. Wütend auf diesen Lehrer, der seine Macht missbrauchte, um mir mein Leben zur Hölle zu machen. Wütend auf all die Male, die er mich in der Vergangenheit schlecht behandelt hatte. Darauf, dass er nie bekommen würde, was er verdiente, während ich immer noch litt – und wahrscheinlich weiter leiden würde. Mit diesem Gemisch aus Angst und Wut ging ich zurück in den Unterricht mit ihm.
ZURÜCK IN DIE HÖLLE – ABER ANDERS
Ich wusste, dass er sich an mich erinnerte. Ich wusste, dass er mich aufrufen würde, sobald er eine Gelegenheit dazu sah. Ich schwänzte damals oft die Schule, weil es der einzige Schutz war, den ich hatte. Ich schwänzte auch Biologie, um seine Wiederholungen zu vermeiden. Aber ich wusste, dass ich nicht ewig schwänzen konnte. Irgendwann nahm ich also meine sämtliche Stärke zusammen und bereitete mich vor.
Als er uns seine widerlichen Seiten zum Lernen aufgab, lernte ich sie. Ich las, lernte, und lernte auswendig. Ich übte und wiederholte, wieder und wieder und wieder. Solange, bis ich mir sicher war, dass ich es konnte. Und genau wie erwartet, rief er mich bei Unterrichtsbeginn zur Wiederholung auf, sobald ich das erste Mal zweimal hintereinander zum Unterricht erschien.
Ich wusste, dass alle in der Klasse sich daran erinnerten, dass ich nie ein Wort heraus bekommen hatte, wenn ich zur Wiederholung aufgerufen worden war. Als ich mich mit gesenktem Kopf umsah, verängstigt, sahen mich alle an. Natürlich half das meiner Angst nicht.
Es war still. Ungewöhnlich still. Normalerweise hörte man im Klassenraum immer irgendetwas. Jemand, der sich die Nase putzte. Jemand, der etwas niederschrieb. Jemand, der seinen Stuhl zurecht rückte. Jemand, der mit Papier raschelte. Aber nicht, während alle darauf warteten, dass ich etwas sagte. Es war surreal.
Ich fühlte mein Herz in meinem Bauch hämmern. Ich fühlte die bekannte Leere in meinem Kopf. Das Ziehen in meinem Brustkorb. Die Blockade zwischen meinen Gedanken und meinem Mund. Aber ich fühlte auch, dass es nicht so stark war, wie Jahre zuvor. Stattdessen fühlte ich deutlich die Wut blubbern.
Dann sprach ich plötzlich. Der erste Satz war ein bischen wackelig, aber dann wurde meine Stimme fest. Ich trug das gesamte Kapitel, das wir als Hausaufgabe aufgehabt hatten, vor, ohne auf zu blicken.
Als ich fertig war, blickte ich hoch. Der Lehrer sah mich an. Ich spürte, dass etwas vor sich ging, konnte aber seinen Gesichtsausdruck nicht lesen. Einen Moment lang herrschte Stille. Dann begann er, mir ein paar Fragen zu stellen. Ich beantwortete jede einzelne.
Als alles gesagt und getan war, lobte der Lehrer mich für meinen Vortrag und gab mir eine 1-.
Das war mein Selektiver Mutismus Wendepunkt. Es war episch. Ich hatte nicht viele solcher Momente in meinem Leben. Nur endlose Kämpfe und Leiden. Aber an diesen Moment werde ich mich immer erinnern. Ich spürte eine Woge von Macht in meinem Körper. Ich war stark. Ich war frei. In diesem Moment war ich unbesiegbar.
ICH ÜBERWAND – ABER ICH BIN NICHT GEHEILT UND ICH ZAHLE DEN PREIS.
Ich war nach diesem Erlebnis nicht geheilt. Ich habe auch heute noch Selektiven Mutismus. Aber mein selektiv mutistisches Leben änderte sich. Dieser Lehrer machte mir keine Angst mehr. Andere lehrende Personen schüchterten mich ebenfalls nicht mehr so sehr ein. Mein Schulleben war immer noch die Hölle, aber es wurde einfacher, mit meinem Selektiven Mutismus zu leben.
Ich habe hart dafür gekämpft, meinen Mutismus zu überwinden. Dieses Mal und viele weitere Male. Und ich habe es ganz allein getan. Ich hatte keine Unterstützung, weder privat, noch von Fachleuten. Ich habe mich nicht geheilt. Aber es gelang mir mit der Zeit, meinen Selektiven Mutismus auch in anderen Situationen zu überwinden. In anderen blieb er ein Problem.
Ich habe einen hohen Preis für mein Überwinden gezahlt, und tue dies noch immer. Meine Angststörung blieb unbehandelt. Aufgrund zusätzlicher Umstände entwickelte sich daraus eine schwere Generalisierte Angststörung, die mich jahrelang behindert hat. Sie behindert mich noch heute. Mein Selbstvertrauen hat schwerwiegend gelitten und wird sich vielleicht nie erholen. Und ich wurde dazu gezwungen, die Schule abzubrechen. Noch heute wünsche ich mir, nochmal zur Schule zu gehen und mein Abitur zu machen.
Ich habe auch heute noch Selektive Mutismus Episoden. Ich bin weiterhin behindert. Ich möchte vielleicht widersprechen, kann es aber nicht. Ich möchte vielleicht meine Zustimmung zu etwas geben oder sie vorenthalten, kann es aber nicht. Ich möchte vielleicht etwas sagen oder fragen, kann es aber nicht. Dies hat in meinem Alltag viele negative Auswirkungen.
Der größte Unterschied zu meiner Kindheit ist, dass ich jetzt weiß, was Selektiver Mutismus ist. Ich verstehe, was ihn auslöst, und was ich dagegen tun kann. Ich habe Möglichkeiten, mich zu wehren, mich zu beruhigen, meine Angst zu kontrollieren – und meistens kann ich verhindern, dass er mir vollständig meine Worte raubt. Und wenn ich das nicht kann, bin ich gütig mit mir selbst. Ich akzeptiere es. Ich erhole mich wieder. Ich empfinde keine Scham oder Schuld mehr.
Heute brauche ich mit meinem Selektiven Mutismus nicht mehr viel Unterstützung, weil ich mir selbst bereits mit dem Meisten geholfen habe. Ich habe das Verständnis, das ich brauche, und gebe es an die Menschen in meinem Leben weiter, die es brauchen.
Sie unterstützen mich, indem sie schlicht warten, bis ich wieder sprechen kann, und mich die Arten von Kommunikation benutzen lassen, die ich benutzen kann. Fremde sind eine andere Geschichte, und ich befinde mich definitiv noch am Beginn meiner Selbstvertretungs-Reise.
Beim Erinnern an diese Erfahrungen ist mir aufgefallen, dass ich mich selbst in meinen schlimmen Selektiven Mutismus Jahren immer als schwach gesehen habe. Ich dachte, ich war schwach, weil ich nicht konnte, was alle Anderen scheinbar so mühelos konnten. Ich wollte nicht, dass irgendjemand wusste, dass ich dieses Problem hatte. Aber wenn ich heute zurückdenke, wird mir klar, dass das nicht stimmt.
Ich war so mutig. Dass ich trotz des Horrors weiter gemacht habe. Dass ich all das ganz alleine geschafft habe. Als Kind und jugendlicher Mensch. Ich habe mit einer behindernden Angststörung gelebt. Ich war überhaupt nicht schwach. Auch wenn ich heute verstehe, dass ich selbst dann mein Leid nicht verdient hätte, wenn ich tatsächlich schwach gewesen wäre. Ich hätte so oder so die Unterstützung verdient, die ich brauchte.
DIE UNTERSTÜTZUNG DIE ICH MIR WÜNSCHTE GEHABT ZU HABEN
Ich wünschte, ich hätte damals die Untersützung gehabt, die ich brauchte. Ich hätte all das nicht alleine machen sollen müssen. Niemand sollte das durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe. Anstatt jahrelang unnötig leiden zu müssen, mit lebenslangen negativen Auswirkungen, hätte ich ein glückliches und gesundes Menschenwesen sein können.
Mein Leben wäre einfacher gewesen, hätte ich gewusst, dass ich Selektiven Mutismus habe. Hätte ich gewusst, was das ist, was ihn auslöst, und was ich tun kann, um mir selbst in akuten Episoden zu helfen. Das zu wissen, hätte mir erlaubt, mich selbst zu verstehen, für mich selbst einzutreten, oder Andere für mich eintreten zu lassen.
Ich hätte großen Nutzen vom Zugang zu alternativen Kommunikationsmethoden gehabt. Davon, zu wissen, dass es in Ordnung ist, nicht zu sprechen. Dass jede Art der Kommunikation genau so viel wert ist wie gesprochene Sprache.
Es hätte mir geholfen, wenn andere Menschen gewusst hätten, was Selektiver Mutismus ist. Wenn sie mein Leiden nicht als absichtliche Zuwiderhandlung oder Charakterfehler fehlinterpretiert hätten. Wenn sie mich nicht unter Druck gesetzt, verspottet, oder bestraft hätten, sondern einfach akzeptiert hätten, dass ich manchmal nicht sprechen kann.
Hilfsmittel und -maßnahmen, wie im Unterricht nicht aufgerufen werden wenn ich mich nicht melde, oder schriftliche Mitarbeit statt mündlicher leisten zu dürfen, hätten mein Leben verändert. Die Sicherheit zu haben, nur sprechen zu müssen, wenn ich mich dazu bereit und in der Lage fühle, hätte einen riesigen Unterschied gemacht.
Damals meine Angststörung zu behandeln, hätte wahrscheinlich verhindert, dass sie sich langfristig so entwickelt, wie sie es hat – oder hätte die langfristigen Auswirkungen zumindest abgemildert. Ich hätte meinen Selektiven Mutismus wahrscheinlich weit früher überwinden können, wäre mein Selbstvertrauen richtig aufgebaut worden.
Therapien werden bei selektiv mutistischen Kindern oft eingesetzt. Therapie zielt darauf ab, sie wieder zum Spechen zu bringen. Diese Therapien wurden nicht von Menschen mit Selektivem Mutismus entwickelt. Oft sind sie problematisch, schädlich, oder schlicht nicht hilfreich. Ich hätte von den vorhandenen Therapien nicht profitiert, und bin froh, dass mir zumindest das erspart wurde.
Ich wünschte, ich hätte Zungang zu anderen Menschen wie mir gehabt. Gemeinschaft finden hilft. Sich gegenseitig durch schwierige Erfahrungen hindurch zu unterstützen, ist eine gute Sache. Ich lege dies jedem mit Selektivem Mutismus, jedem der jemanden mit Selektivem Mutismus kennt, nahe. Die Einsamkeit und Isolation, die ich erlebt habe, waren herzzerreißend.
Die Lehrer, die mich gemobbt haben, hätten entlassen werden müssen. Dies wird nicht oft genug gesagt, also sage ich es: Lehrer, die ihren Schülern schaden, müssen entlassen werden.
Ich kann stolz auf mich sein. Dafür, dass ich überlebt habe. Dafür, dass ich mich gewehrt habe. Dafür, dass ich meine Stärke gefunden habe.
Jeden einzelne selektiv mutistische Mensch da draußen kann so unglaublich stolz auf sich sein. Es ist schwierig, aber du bist hier. Andere werden es vielleicht nie verstehen, aber ich verstehe es. Menschen wie wir verstehen es. Du existierst. Du bist nicht alleine. Ich hoffe, du bekommst die Unterstützung, die du brauchst, und dass es für dich einfacher wird.
Hätte mich damals nur jemand gesehen. Wirklich gesehen. Und sich für mich interessiert. Die Dinge hätten anders sein können. Leider kann ich die Vergangenheit nicht ändern. Dies sind jetzt Erinnerungen, und ich benutzte sie dazu, meine Vergangenheit zu verarbeiten, und anderen zu helfen, zu verstehen. Damit andere Kinder (und Erwachsene) mit Selektivem Mutismus nicht so leiden müssen, wie ich.
Wir sind alle Menschen, ob wir sprechen, oder nicht.
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