HOME » BLOG » BOLTING – PLÖTZLICHE AUTISTISCHE FLUCHT ERKLÄRT
BOLTING – PLÖTZLICHE AUTISTISCHE FLUCHT ERKLÄRT
Bolting. Auf deutsch “Durchgehen” – auch wenn ich persönlich den deutschen Begriff überhaupt nicht mag und auch nicht benutze.
So nennen Menschen es, wenn eine autistische Person plötzlich durchstartet und wegrennt.
Viele außenstehende Beobachtende des Boltings betrachten es als ein „Problemverhalten“. Das liegt zum Teil daran, dass es gefährlich und als betreuender Mensch schwierig zu handhaben sein kann. Menschen die bolten, haben vielleicht kein Gefahrenbewusstsein oder keinen Selbsterhaltungstrieb mehr. Sie rennen vielleicht, egal in was sie hinein rennen. Sie rennen über rote Ampeln, in den Verkehr hinein, fallen in Gewässer, fallen aus großen Höhen, verlaufen sich, oder rennen vor den Obrigkeiten wie etwa der Polizei davon.
Viele außenstehende Beobachtende des Boltings betrachten es außerdem als „unangebrachtes“ und „fehlangepasstes“ Verhalten. Das liegt daran, dass nichtbetroffene Beobachtende die berechtigten Gründe für das Bolting nicht selbst erleben und daher meist nicht nachvollziehen können. Sie denken, dass es die falsche Reaktion auf die Situation ist. Viele außenstehende Beobachtende, insbesondere Verhaltenstherapierende, glauben dass Bolting ein willentliches Verhalten ist, zielorientiert, durchgeführt für Aufmerksamkeit und um zu Manipulieren.
Das Problem mit der aktuell dominanten Sichtweise auf das Bolting ist, dass sie von nichtbetroffenen Menschen kommt. Meist nichtautistische Eltern autistischer Kinder, oder nichtautistische Fachleute. Das ist ein Problem, weil Menschen die Bolting nicht selbst erleben unmöglich eine vollständige Einsicht in das Wie und Warum haben können. Dementsprechend können sie auch nicht wissen, wie man richtig unterstützt und hilft.
Lasst uns also das Bolting einmal von innen betrachten!
WAS IST BOLTING WIRKLICH?
Bolting ist ein instinktives Fluchtphänomen. Es ist eine unfreiwillige Reaktion auf einen Trigger – ganz ähnlich wie Meltdowns.
Laut aktueller Forschung haben autistische Gehirne mehr Verbindugnen als nichtautistische. Sie verarbeiten konstant mehr Informationen, intensiver und chaotischer als nichtautistiche. Das bedeutet, dass Informationen, die die meisten nichtautistischen Menschen problemlos verarbeiten können, für autistische Gehirne zu viel sein können. Dies wiederum heißt, dass unsere Gehirne manchmal mit bestimmten Informationen nicht zurechtkommen und mit Dingen wie Bolting reagieren – während nichtautische Gehirne dies normalerweise nicht tun.
Bolting mag Menschen, die es nicht erleben, unangemessen oder ungerechtfertigt erscheinen. Aber für autistische Menschen, die es erleben, ist es eine natürliche, instinktive, berechtigte, gerechtfertigte Reaktion auf einen Auslöser. Das bedeutet nicht, dass es nicht gefährlich ist. Das kann es durchaus sein.
Während ich hier speziell über autistisches Bolting spreche, so sind autistische Menschen doch nicht die einzigen Menschen, die diese Art plötzliches Fluchtphänomen erleben. Behaltet dies bitte im Hinterkopf, wenn ihre über diese Art Erfahrungen sprecht.
WAS LÖST BOLTING AUS?
Während Bolting unerwartet, unvorhersehbar, und unvermeidbar erscheinen mag, so ist es mit ausreichend Verständnis oft weder noch.
Jeder autistische Mensch der boltet hat dafür Auslöser.
Wenn man die Auslöser einer Person kennt, können diese möglicherweise vermieden werden. Sind sie unvermeidbar, so sind sie möglicherweise vorhersehbar, und Unterstützung und Sicherheitsmaßnahmen können entsprechend gegeben werden.
Dies bedeutet, dass Bolting mit ausreichend Bewusstsein, Anpassung, und Unterstützung nicht das furchteinflößende Monster sein muss, das es für viele Betreuende von autistischen Menschen ist.
Seine Trigger zu kennen, zu wissen wie man sie vermeiden kann und wie man beim Bolting sicher bleiben kann, kann auch autistischen Menschen helfen. Es erlaubt uns, unsere Bedürfnisse zu erfüllen und für uns selbst einzutreten. Wir können uns sicherer fühlen und es auch sein. Es kann zu mehr Autonomie und Handlungsfähigkeit führen. Es kann zu weniger Scham, Vorwürfen, Schuldgefühlen, und Stigma führen.
WIE FÜHLT SICH BOLTING AN?
Es ist etwas schwierig für mich, zu beschreiben wie sich Bolting anfühlt, weil ich währenddessen nicht bei Bewusstsein bin – nur davor und danach.
Manchmal kann ich das Bolting kommen fühlen. Es fühlt sich an wie ein blubberndes Aufbauen von Energie in meinem Körper, das droht mich zu verschlingen. Droht, mich und mein Bewusstsein zu verschlucken und wegzuspülen wie ein Tsunami.
Direkt bevor ich bolte, spüre ich dieses Ziehen in meinem Körper. Es ist hauptsächlich in meiner Brust und es zieht mich, zieht mich, zieht mich weg. Es fühlt sich außerdem an, als würde ich explodieren. Dann kann ich nicht mehr denken. Ich habe kein Bewusstsein mehr.
Dann renne ich. Weil ich mir nicht bewusst bin, dass ich renne, ist dies was Andere mir erzählt haben. Ich scheine nichts bewusst zu hören, weil ich nicht darauf reagiere, wenn Menschen mich anschreien. Ich scheine nichts bewusst zu sehen, weil ich renne, egal was vor mir liegt. Ich scheine kein Gefahrenbewusstsein und keinen Selbsterhaltungstrieb mehr zu haben, weil ich bereits auf die Straße gerannt bin. Ich bin auch bereits gegen Wände und Autos gerannt, oder was sich sonst so in meinem Weg befand.
Dann irgendwann ist es vorbei und ich bin wieder bei Bewusstsein. Ich sehe, höre, nehme meine Umgebung wahr, und ich höre auf zu rennen. Dann sind da gewöhnlich ein paar Momente oder Minuten der Verwirrung, weil ich nicht weiß, wo ich bin und wie ich dorthin gekommen bin. Ich habe mich bereits verlaufen, weil ich an Orte geboltet bin, die ich nicht wiedererkannt habe. Dann versuche ich, mich zu orientieren. Ich mag es nicht, wenn Menschen mich anstarren. Ich fühle mich dann nicht sicher. Ich habe keine Erinnerung an das Bolting selbst. Danach möchte ich nur nach Hause und mich verstecken.
WAS KANN HELFEN, BOLTING ZU VERMEIDEN?
Man kann Bolting nicht mit dem Aufstellen von Verhaltensregeln verhindern, weil Bolting kein bewusstes, kontrolliertes Verhalten ist. Während einer Bolting Episode ist das Vermögen Regeln zu befolgen und gelernte Fähigkeiten wie „Stopp, warte auf grün, dann geh.“ Oder „Bleib immer an meiner Seite.“ zu nutzen eingeschränkt.
Be/Miss-handle Bolting nicht als Verhaltensproblem. Versuche nicht, es mit Verhaltensregeln und -ansätzen zu „beheben“. Lasst uns Bolting stattdessen als das neurologische/nervensystemische Phänomen behandeln, das es ist:
Bolting wird durch einen Trigger ausgelöst. Um Bolting also zu verhindern, müssen die Trigger einer Person so gut wie möglich verstanden und vermieden werden.
Verstehen, vermeiden, anpassen.
WAS TUN, WENN JEMAND BOLTET?
Vorbeugung ist super – wenn sie funktioniert. Weil aber 100% Vorbeugung im Leben so gut wie unmöglich sind, schauen wir uns einmal an was man tun kann wenn jemand boltet.
Zuallererst:
Menschen bolten nicht vorsätzlich. Sie tun es nicht für Aufmerksamkeit, um zu Manipulieren, um etwas zu erreichen, oder was Verhaltenstherapeuten und andere Fachleute dich sonst so glauben machen wollen. Bolting passiert Menschen. Deshalb darfst (und solltest) du verhaltensverändernde Ansätze wie „Aufmerksamkeit vorenthalten“ oder „das Verhalten nicht bestärken“ schlicht vergessen.
Aber was solltest>/strong> du tun, wenn du mit jemandem zusammen bist, der plötzlich boltet?
1. Bleib ruhig.
2. Sorge für die Sicherheit der boltenden Person.
Was genau das beinhaltet, hängt ganz von der Person, den Triggern, und der Situation und Umgebung ab, in denen das Bolting passiert.
Einige autistische Menschen nehmen während des Boltings gar nichts mehr bewusst wahr, sodass mit ihnen zu interagieren nutzlos ist.
Anderen autistischen Menschen hilft es, wenn jemand ihnen verbale Anweisungen zuruft, die sie aus der instinktiven Reaktion reißen.
Einer autistischen Person hilft es vielleicht, wenn jemand sie zurückhält.
Für eine andere macht sie zu greifen es nur noch schlimmer.
Ich kenne autistische Menschen, die gerne eine Art Geschirr tragen, um daran gehalten zu werden.
Für andere autistische Menschen ist das eine traumatische Verletzung ihrer körperlichen Selbstbestimmung.
Leider gibt es keine eine Lösung, die für alle funktioniert. Was einer Person hilft, kann einer anderen schaden. Der Schlüssel ist, die Autonomie, Handlungsfähigkeit, und das Zustimmungsvermögen der autistischen Person zu respektieren. Arbeitet zusammen, um etwas zu finden, das funktioniert.
Es kann eine große Hilfe sein, Einsichten von anderen autistischen Menschen zu bekommen. Seid vorsichtig bei Ratschlägen von Menschen, die selbst nicht autistisch sind und Bolting nicht selbst erleben. Ihnen fehlen oft entscheidende Einblicke, um diesem Thema angemessen zu begegnen.
EIN WORT ZU “BOLTING” VERSUS “ELOPING”
Einige Menschen benutzen die Begriffe „bolting“ (durchgehen) und „eloping“ (durchbrennen) als untereinander austauschbar. Ich persönlich mag den Begriff „durchbrennen“ nicht, weil dessen Benutzung im alltäglichen Sprachgebrauch eine Wahl unterstellt, eine freiwillige Handlung. Bolting dagegen unterstreicht die instinktive, unfreiwillige Natur dieses Phänomens meiner Meinung nach gut.
EIN WORT ZU “BOLTING” VERSUS “WANDERN”
Wandern ist ein anderes Phänomen das viele autistische Menchen häufig erleben. Es ist mit Bolting verwandt, jedoch nicht das Gleiche. Für mich ist Wandern eher ähnlich wie „elopement“. Jedoch bevorzuge ich hier den Begriff „Wandern“, weil er das Erlebnis besser beschreibt. Daher benutze ich den Begriff „eloping“ oder „durchbrennen“ gar nicht – es sei denn ich beziehe mich auf ein durchbrennendes Liebespaar.
Schreibe einen Kommentar