ALEXITHYMIE – WENN MAN NICHT WEISS, WAS MAN FÜHLT
WAS ALEXITHYMIE IST
“Wie fühlst du dich?”
Hast du keine Alexithymie, würdest du wahrscheinlich mit einem Adjektiv antworten, das deine aktuellen Gefühle beschreibt. Schuldig. Sentimental. Besorgt. Hilflos. Eifrig. Fürsorglich. Ratlos. Es gibt so viele. Aber irgendwie wüsstest du, welches das Richtige wäre. Weil du wüsstest, was du gerade fühlt.
Hast du Alexithymie, würdest du stattdessen wahrscheinlich mit einer Beschreibung deines körperlichen Zustandes antworten. Mir ist übel. Mein Herz schlägt so schnell. Ich schwitze. Oder du hättest Schwierigkeiten, überhaupt zu antworten, weil du wüsstest, dass ein Gefühlswort erwartet wird, aber nicht wüsstest, welches du benutzen sollst. Weil du nicht wüsstest, was du gerade fühlst.
Das ist Alexithymie.
Der Begriff kommt vom Griechischen “a”, das “nicht” bedeutet, “lexis”, das “Wörter” bedeutet, und “thymos”, das “Herz” oder “Emotionen” bedeutet und bedeutet somit wörtlich “Keine Worte für Emotionen”.
Menschen mit Alexithymie haben Schwierigkeiten damit, ihre Emotionen zu identifizieren und zu beschreiben. Sie haben oft auch Schwierigkeiten damit, die Emotionen anderer Menschen zu identifizieren, was zu Problemen mit Empathie führen kann.
Es ist wichtig anzumerken, dass obwohl ich selbst Autist und Alexithymiker bin und Alexithymie unter Autisten häufig vorkommt, beide Konditionen nicht notwendigerweise gleichzeitig auftreten müssen. Nicht alle Autisten haben Alexithymie. Nicht alle Alexithymiker sind Autisten.
Weiterhin ist es wichtig anzumerken, dass Alexithymie sowohl temporär (z.B. durch PTBS), sowie auch permanent sein kann.
Ich hoffe, es ist aufgefallen, dass nirgendwo in dieser Beschreibung die Rede davon ist, dass Menschen mit Alexithymie keine Emotionen haben. Das liegt daran, dass sie sie haben. Sie wissen nur oft nicht welche Emotionen sie erleben.
WIE SICH ALEXITHYMIE ANFÜHLT
Die meiste Zeit befinde ich mich in meinem, wie ich es nenne, „neutralen Zustand“. Das heißt, dass ich gerade keine großen, eindeutigen Emotionen erlebe und die kleinen Emotionen für mich zu diffus sind, um sie identifizieren zu können.
Selbst bei Emotionen die ich identifizieren kann, gelingt dies meist erst im Nachhinein. Nach sorgsamer Analyse der Situation und meines Körpers, verstehe ich manchmal „Ach, das habe ich da also gefühlt!“.
Gefühlswörter haben wenig Bedeutung für mich. Einige habe ich gelernt und versuche, sie in mein Vokabular zu integrieren. Allerdings wurde mir immer nur von Anderen gesagt, dass bestimmte Dinge bestimmte Emotionen bedeuten. Ich weiß es nicht von mir aus.
Meist beschreibe ich wie ich mich fühle mit Adjektiven, die keine Emotionen beschreiben. So wie müde, hungrig, etwas schmerzt, schwindelig, erschöpft – alles, was damit zu tun hat, wie sich mein Körper sich anfühlt. Körperliches Empfinden ist meine Art zu wissen, wie ich mich fühle. Ich kann schlicht wenig Anderes greifen und es noch weniger Anderen erklären.
WARUM ALEXITHYMIE EIN PROBLEM SEIN KANN
Ich fühle alles intensiver, aufgrund meines Autismusses. Deshalb bekomme ich oft Overloads von Emotionen, die ich nicht verstehe, sowie von somatischen Reaktionen meines Körpers.
Emotionen bleiben häufig in meinem System stecken und behelligen mich eine sehr lange Zeit, ohne dass ich weiß, was nicht stimmt, oder was ich dagegen tun kann. Manchmal fühle ich mich körperlich wochenlang schlecht und denke, ich bin krank, ehe ich irgendwann verstehe, dass da etwas emotionales war, dass mich gestört hat.
Alexithymie mindert meine Fähigkeit, negative Emotionen zu bearbeiten und loszulassen. Sie mindert auch meine Fähigkeit, positive Emotionen zu erleben und in Erinnerung zu halten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das alle Dinge, die mit Emotionen zu tun hat schwierig macht, wie etwa ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, Beziehungen aufzubauen, oder von Trauma zu heilen.
Emotionen sind für mich oft überladendes Chaos. Wenn ich emotional negativ geladenen Dingen ausgesetzt bin, leide ich. Die Konsequenzen können extrem und sehr schädlich für mich sein. Je nachdem, wie es mir geht, kann ich mich mit bestimmten Dingen auseinander setzenh, oder auch nicht.
Anderen erklären zu können, was wir fühlen, ist ausserdem ein großer Teil von Beziehungsbildung. Meine eigenen Emotionen nicht identifizieren oder beschreiben zu können, ist die eine Sache – das Gleiche auch mit den Gefühlen Anderer nicht zu können verursacht Probleme mit Empathie und macht Beziehungen schwierig.
Und letztendlich bin ich aufgrund von Alexithymie auch sehr gefährdet Opfer von Nötigung, Missbrauch, und Gaslighting (jemanden durch wiederholtes Bestehen auf Fehlinformationen an eigenem Wissen und Erinnerungen zweifeln lassen) zu werden.
Wenn ich nicht weiß, was ich fühle, besteht immer die Gefahr, dass Andere mich davon überzeugen können, dass ich Dinge fühle, die ich in Wirklichkeit gar nicht fühle. Darauf muss ich also aufpassen.
ANPASSUNGEN FÜR ALEXITHYMIE
Um Overloads und Meltdowns ausgelöst durch zu viele Emotionen, die ich nicht identifizieren und verarbeiten kann, zu vermeiden tue ich manchmal Dinge wie…
…nicht die Nachrichten gucken.
…keine schädlichen Videos auf Youtube anschauen.
…bestimmte Filme nicht gucken.
…mich nicht auf schädliche Ansichten einlassen, die mir begegnen.
…Artikel mit emotional geladenen Themen nicht lesen.
…soziale Medien nicht checken.
Manchmal benutze ich Gefühlsworte, obwohl ich nicht weiß, ob ich diese Emotion gerade wirklich fühle, weil es nicht immer möglich oder sicher für mich ist, zu erklären, dass ich Alexithymie habe und was es ist.
Über die Jahre habe gelernt, dass bestimmte körperliche Empfindungen bestimmte Emotionen indizieren. Und ich habe gelernt, dass in bestimmten Situationen bestimmte emotionale Reaktionen logisch sind. Also benutze ich manchmal die Gefühlsworte, von denen ich glaube, dass sie so korrekt wie möglich sind.
Die beste Anpassung von anderen Menschen wäre es, mich einfach nicht zu bitten, zu erklären, was ich fühle. Insbesondere dann nicht, wenn ich bereits erklärt habe, dass ich das nicht kann.
Wenn ich „Stop.“ sage – hör auf. Ausnahmslos.
Ich sage “Stop.”, wenn ich mich am Rande eines Meltdowns befinde. Aufgrund von Alexithymie kann ich das meist nicht früh genug bemerken. Ich bemerke es erst dann, wenn die Emotionen bereits so groß und überwältigend sind, dass selbst ich die Dringlichkeit identifizieren kann, weil ich eine körperliche Reaktion bekomme.
Alexithymie ist niemandes Schuld. Sie macht einen auch nicht zu einem schlechten Menschen. Sie macht das Leben härter, also macht es ein wenig einfacher, in dem ihr gütig und akzeptant seid.
Schreibe einen Kommentar