ANGST ÜBERLEBEN
FORTSCHRITT
Jedes Jahr fliegt mein Mann, der aus den USA kommt, gerne für zwei Wochen in den Sommerferien nach Hause, um seine Familie und Freunde zu besuchen.
2018 bin ich die gesamten zwei Wochen tagsüber und nachts alleine daheim geblieben und habe mich an den meisten Tagen auch selbst ernährt. Meine Mutter hat mich mit Essen versorgt und mich wenn notwendig unterstützt.
2017 bin ich die gesamten zwei Wochen tagsüber alleine daheim geblieben, habe die Nächte aber bei meinen Eltern verbracht, wo ich auch mit Essen versorgt wurde.
2016 bin ich den Großteil der zwei Wochen bei meinen Eltern geblieben, und habe nur hin und wieder etwas von daheim geholt.
2015 konnte mein Mann nicht nach Hause fliegen.
2014 konnte er mich nicht einmal für 30 Minuten alleine lassen.
2012 habe ich eine schwere Angststörung entwickelt, ausgelöst durch verschiedene undiagnostizierte körperliche Krankheiten, chronifiziert durch medizinisches Trauma und „Fachleute“, die mich nicht ernst genommen haben.
Hier ist, wie ich überlebt habe. Und wie es besser wurde.
Spoiler: Es war nicht dank „professioneller“ Hilfe.
DEN KAMPF-FLUCHT-ERSTARREN KREISLAUF DURCHBRECHEN
Wäre ich ernst genommen worden, wären meine körperlichen Probleme diagnostiziert und behandelt worden, wäre meine Angst nie so schlimm geworden, wie sie wurde. Aber weil das nicht passierte, brauchte ich Medikamente, um meinen Kampf-Flucht-Erstarren Kreislauf zu durchbrechen.
Nach einem sehr missglückten Versuch mit einem Benzodiazepin bekam ich Pregabalin. Ich hatte anfangs sehr viele Nebenwirkungen, aber letztlich hat mein Körper sich daran gewöhnt. Ich habe es 4 Jahre lang genommen und endlich im Dezember 2018 abgesetzt.
DEN AUSLÖSER DER ANGST FINDEN
Dieser Schritt war am Leichtesten für mich. Ich wusste von Anfang an, dass meine undiagnostizierten körperlichen Symptome der Grund für mein körperliches Leiden und der Auslöser meiner Angst waren.
AM AUSLÖSER DER ANGST ARBEITEN
Es hat Jahre und unzählige Ärtzte gebraucht, um hin und wieder einen zu finden, der offen genug war, nicht augenblicklich meine sämtlichen Symptome als “stressbedingt” abzutun. Nach und nach erhielt ich diverse Diagnosen.
Ich bekam Medikamente und Behandlungen und viele meiner körperlichen Symptome sind entweder verschwunden, oder aushaltbar geworden. Je weniger körperliche Symptome ich hatte, desto weniger Angst hatte ich. Leider sind einige meiner Probleme inzwischen chronisch, weil sie zu lange unbehandelt blieben.
DIE ANGST AKZEPTIEREN
Mein Autismus bedeutet es ist für mich unglaublich schwierig, mit körperlichen Veränderungen umzugehen. Das Gleiche galt für meine Angst.
Es hat sehr lange gedauert, aber irgendwann habe ich gelernt, meine Angst zu akzeptieren. Sie auszuhalten, anstatt dagegen anzukämpfen. Zumindest soweit, dass es aushaltbar wurde. Leicht ist es nach wie vor nicht.
Angst akzeptieren heißt nicht, nicht an ihr zu arbeiten.
Angst zu akzeptieren heißt, in akuten Phasen nicht zu versuchen, keine Angst mehr zu haben. Das ist nämlich schlicht unmöglich.
Angst zu akzeptieren heißt, sich und Anderen gegenüber einzugestehen „Ich habe gerade Angst.“. Sich nicht dafür zu schämen, es nicht zu verstecken, sondern aktiv damit umzugehen.
AN DER ANGST ARBEITEN
Ich habe alles Mögliche ausprobiert, jedoch nie autismusspezifische Hilfe erhalten. Einiges wollte ich probieren. Zu Anderem wurde ich gedrängt und genötigt. Nichts hat geholfen.
Letztendlich habe ich aufgehört, „Fachleute“ um Hilfe zu fragen und habe getan, was sich richtig anfühlte.
VERMEIDUNG IST NICHT BÖSE
„Fachleute“ sagen immer dass man Angstauslöser nicht vermeiden soll. Dass es dadurch nur schlimmer wird. Bis zu einem gewissen Punkt haben sie Recht. Und ab einem gewissen Punkt nicht mehr. Ich habe das Nichtvermeiden probiert. Es wurde dadurch nur schlimmer. Mein Körper hat sich nicht umgewöhnt, der konstante Stress hat mich nur unglaublich krank gemacht.
Zu Beginn habe ich alles vermieden, was meine Angst ausgelöst hat. Ich musste zuerst überhaupt irgendeine Art von Kraft wieder erlangen. Und dann habe ich diese Dinge ganz langsam, Stück für Stück, wieder in mein Leben integriert, so wie es mir möglich war.
AKTIVE ABLENKUNG
Ein großes Problem während meiner akuten Angstphasen, war meine Erstarrungsreaktion. Also habe ich angefangen, mich in aktiver Ablenkung zu üben.
Wenn ich Angst bekam, bin ich aufgestanden, habe mich gedehnt, bin auf und ab gehüpft, habe meine Hände ausgeschüttelt, etwas getrunken, und angefangen Dinge zu tun, die es notwendig machten, dass ich mich bewege.
Ich habe viel geputzt. Und ich habe viele Dinge gebaut. Je beschäftigter und aktiver ich war, desto weniger Angst habe ich empfunden.
Ich weiß heute, dass die mentale Ablenkung nur ein Teil dessen war, was für mich funktioniert hat.
Die extreme Muskelanspannung von meiner Erstarrungsreaktion während akuter Angstphasen hat körperliche Proleme verursacht. Je mehr ich mich bewegte, desto weniger wurden meine Nerven getriggert.
NUR NOCH EINE MINUTE
Anstatt an den gesamten Tag mit Schwindel, Übelkeit, Atemproblemen, Herzrasen usw. zu denken, der vor mir lag, habe ich mich auf die nächste Minute konzentriert. Fühlt es sich jetzt noch genauso an? Was ist besser? Ist es wenigstens nicht schlimmer? Hey, ich habe überlebt! Kümmern wir uns also um die nächste Minute.
Alles was ich tun wollte, oder musste, habe ich Minute für Minute in Angriff genommen. Wenn es besser wurde, habe ich Dinge länger getan, solange, bis ich mein Ziel erreicht hatte.
EINE VERTRAUENSPERSON
Ich hätte die letzten sechs Jahre nicht alleine überlebt. Ich brauchte jemanden, dem ich vertrauen konnte, der immer an meiner Seite war. Jemand, auf den ich mich verlassen konnte, der mir helfen würde, egal was ich brauchte. Ohne mich zu verurteilen. Jemand, um mich zu Terminen zu begleiten und für mich einzustehen und so weiter.
Mein Mann war und ist dieser Mensch.
Er hat mir außerdem unzählige Male mit Massagen, Akupunktur, Dehnübungen, und Übungen zur Lockerung, Stärkung, und Mobilität das Leben gerettet.
Meine Eltern haben mir ebenfalls viel geholfen, auch wenn diese Beziehung deutlich schwieriger war.
ALLES GEHT VORBEI
Für eine sehr lange Zeit habe ich nicht daran geglaubt, dass es jemals besser werden würde. Und körperlich geht es mir tatsächlich nach wie vor schlechter. Aber zu wissen, dass jede Sekunde, die ich lebte, vorbei gehen würde, hat mich durch unfassbar schwierige Zeiten gebracht.
Zu wissen, dass es irgendwann vorbei sein würde, war meine einzige verlässliche Quelle von Stabilität und Sicherheit.
Jeder Moment, den ich überlebe, ist ein Moment mehr hin zu einer Chance darauf, dass es mir besser geht.
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