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AUTISMUS UND REGELN
REGELN SIND NOTWENDIG
Ohne Regeln kann keine Gesellschaft existieren. Mit anderen Menschen zusammen zu leben erfordert Regeln. Regeln bringen Ordnung ins Chaos. Sie geben uns Orientierung. Regeln schaffen Verlässlichkeit, Vorhersehbarkeit, Gleichheit, und Sicherheit. Das stimmt generell und generell oft umso mehr für autistische Menschen.
Autistische Gehirne verarbeiten constant mehr Informationen, als nicht-autistische Gehirne. Wir erleben alles generell intensiver. Wir haben keinen automatischen Prioritätenfilter, sodass alles immer verarbeitet werden muss, was zu Chaos und Overload führt.
Unsere natürliche Art des Seins und des Interagierens unterscheidet sich von denen nichtautistischer Menschen. Wir leben in einer Welt von und für nichtautistische Menschen gemacht. Was nichtautistische Menschen oft einfach ganz natürlich aufnehmen, ist für viele autistische Menschen nicht natürlich.
Hier sind fünf Punkte zu Regeln und autistischen Menschen die beachtet werden sollten, es aber oft nicht werden:
1. ERWARTE NICHT, DASS WIR REGELN VON SELBST AUFGREIFEN.
Viele autistische Menschen brauchen und sehnen sich in einem Ausmaß nach Regeln, das das nichtautischer Menschen übersteigt. Gleichzeitig haben viele von uns Schwierigkeiten damit, bestimmte Regeln ohne Hilfe zu verstehen, weil diese gegen unsere autistische Natur gehen.
Regeln, die von und für nichtautistischen Menschen und eine nichtautische Welt gemacht sind ergeben sich vielleicht für nichtautistische Menschen ganz natürlich, nicht jedoch für autistische. Infolgedessen müssen wir Regeln, alle Regeln, vielleicht beigebracht bekommen, einschließlich jener die du vielleicht für „selbstverständlich“ hältst.
2. HINTERFRAGE REGELN BEVOR DU SIE UNS BEIBRINGST.
Ehe du einfach anfängst, uns alle Regeln beizubringen, warte.
Du solltest Menschen nicht nur die Regeln beibringen, sondern auch, warum sie existieren. Um Menschen das Warum bei zu bringen, musst du das Warum zuerst selbst hinterfragen. Du wirst (hoffentlich) feststellen, dass viele nichtautistische Regeln nicht nur vollkommen unnötig sind, sondern autistische Menschen auch aktiv schaden.
„Schau Menschen in die Augen, wenn du mit ihnen redest.“ beispielsweise, ist eine unnötige Regel in einigen nicht-autistischen Kulturen, die vielen autistischen Menschen aktiv schadet. Solcherart Regeln sollten nicht gelehrt, sondern aktiv abgebaut werden, um eine autistisch-inklusivere Welt zu schaffen. Andere Regeln müssen vielleicht individualisiert und an autistische Bedürfnisse, Fähigkeiten, und Schwierigkeiten angepasst werden.
Dann gibt es Regeln die für autistische und nichtautistische Menschen gleichermaßen Sinn machen. Diese solltest du uns beibringen, und ebenso warum sie existieren.
3. BRINGE UNS BEI, REGELN ZU HINTERFRAGEN.
Viele autistische Menschwn wissen nicht automatisch, dass Regeln zu hinterfragen möglich ist. Das liegt daran, dass die Natur von Regeln ist, dass sie befolgt werden müssen. Und die Natur vieler autistischer Menschen ist es, das wörtlich und als ein Absolut zu verstehen.
Deshalb müssen wir vielleicht ausdrücklich beigebracht bekommen, dass Regeln hinterfragt werden können.
Bring uns bei
– dass es in Ordnung ist, zu fragen warum eine Regel existiert.
– von mehr als einer Person Input zu holen.
– dass Ausnahmen gemacht werden können.
– dass Regeln angepasst, oder sogar abgeschafft werden können.
– dass Diskussion erwünscht ist und Möglichkeiten abgewägt werden können.
Du denkst vielleicht, dass es gut ist, ein gehorsames autistisches Kind zu haben, das immer allen Regeln folgt, und niemals hinterfragt – vielleicht gar wünschenswert. Aber während dies das Leben der Menschen um uns herum einfacher macht, so verletzt es doch das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung autistischer Menschen und kann uns außerdem in schwerwiegende Gefahr bringen – denn manchmal müssen Regeln gebrochen werden.
4. BRING UNS NICHT NUR DIE REGELN BEI. BRING UNS AUCH DIE AUSNAHMEN BEI!
Aufgrund dessen wie autistische Gehirne gewöhnlich arbeiten, können viele autistische Menschen Regeln nicht so wie nichtautistische Menschen einfach brechen. Wir haben diese Art Flexibilität oft nicht. Diese Fähigkeit zu navigieren, abweichende Entscheidungen zu treffen, besonders bei Dingen mit denen wir ohnehin schon Schwierigkeiten haben. Ganz besonders nicht in den Live-Situationen, in denen Regelbrechen notwendig sein kann.
Aber manchmal müssen Regeln gebrochen werden!
Nimm beispielsweise “Tue nie jemand anderem weh.“
Das ist eine Regel, die viele Eltern ihren Kindern beibringen und natürlich ist die gundliegende Ansicht berechtigt. Aber es gibt viele Ausnahmen für diese Regel, diese passieren häufig, und im Leben der meisten Menschen irgendwann einmal.
Wenn du einem autistischen Menschen “Tue nie jemand anderem weh.“ beibringst, nimmst du vielen von uns die Möglichkeit, uns selbst zu verteidigen. Weil wir diese Regel nicht einfach brechen können. Wir können nicht verarbeiten, wann es in Ordnung wäre, diese Regel zu brechen. Besonders nicht in der Situation, in der es nötig wäre, weil dies wahrscheinlich Notfallsituationen sind, Stresssituationen, in denen Verarbeitung, Möglichkeiten abwägen, und Entscheidungen treffen unmöglich sein kann.
Wenn du einem autistischen Menschen “Tue nie jemand anderem weh.“ beibringst, kreierst du auch unwissenderweise eine Situation für uns, in der diese Regel versehentlich zu brechen für uns ein echtes Problem schafft. Weil für viele von uns ein versehentlicher Regelbruch genauso schlimm ist, ein absichtlicher.
Wenn du kein Problem damit hast, Regeln zu ändern, anzupassen, und zu brechen, verstehst du vielleicht nicht wie es ist, diese Fähigkeit nicht zu haben.
Wenn eine Regel versehentlich zu brechen sich für dich ganz anders anfühlt, als sie absichtlich zu brechen, verstehst du vielleicht nicht wie es ist, wenn sich beides genau gleich anfühlt.
Aber lass mich versichern: genau dies ist die Realität für viele autistische Menschen und die muss bedacht werden, wenn du uns Regeln beibringst.
Bring uns nicht nur die Regeln bei.
Brin uns auch die Ausnahmen bei!
Anstatt “Tue nie jemand anderem weh.“, probier „Tue anderen Menschen nie absichtlich weh. Außer wenn dich jemand angreift, dann darfst du dich verteidigen.“
Das ist die einfachste Version, die mir eingefallen ist. Einige autistische Menschen brauchen so einfache Regeln wie möglich. Andere brauchen so viele Details wie möglich.
5. LERNE AUCH ON UNS REGELN.
Es kommt so häufig vor, dass autistisch-angrenzende Menschen autistischen Menschen alle möglichen Regeln beibringen und erwarten, dass wir diese befolgen, ohne je daran zu denken, dass wir vielleicht auch ihnen Regeln beibringen müssen oder wollen.
Menschen im Leben autistischer Menschen sind nicht die einzigen, die Regeln aufstellen dürfen!
Lass mich ein paar Beispiele für Regeln geben, die ich für Menschen in meinem Leben aufgestellt habe:
– Fass mein AAC Gerät nicht ohne meine Zustimmung an.
– Erwarte oder verlange nicht, dass ich eine bestimmte Kommunikationsmethode nutze. Akzeptiere die, die ich nutze.
– Kommentiere meine Anpassungen nicht, erwarte oder verlange nicht, dass ich aufhöre, sie zu benutzen.
– Kommentiere oder imitiere mein Stimming nicht.
Dies sind keine Regeln, die normalerweise in unserer Gesellschaft beigebracht werden. Dennoch sind sie für mein Leben fundamental wichtig. Und ich habe das Recht, sie aufzustellen, Menschen beizubringen, und zu erwarten, dass sie befolgt werden. Solcherlei Regeln aufzustellen ist ein wichtiger Teil autistischer Selbstvertretung.
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