WARUM ICH AUTISMUS NICHT ALS UNSICHTBARE BEHINDERUNG BEZEICHNE

Sichtbare und unsichtbare Behinderung sind Konzepte, die sich wachsender Beliebtheit erfreuen. Sie werden weitreichend verstanden und genutzt.

Sichtbare Behinderungen können durch das bloße Ansehen einer behinderten Person gesehen werden. Beispiele sind Körperteilunterschiede, Amputationen, Down Syndrom, Tourette Syndrom, und Lähmungen.

Unsichtbare Behinderungen können durch das bloße Ansehen einer behinderten Person nicht gesehen werden. Dies ist der Fall für meine Migräne, die außerhalb akuter Anfälle unsichtbar ist. Es gilt auch für viele andere körperliche und psychische Erkrankungen, und…Autismus?

Manche Menschen zählen Autismus zu den unsichtbaren Behinderungen da, so sagen sie, man nicht durch bloßes Anschauen sehen kann, dass jemand autistisch ist.

Ich stelle diese Ansicht in Frage. Lass mich erklären, warum.

Für manche autistische Menschen sind ihre autistischen Eigenschaften und Verhalten für Außenstehende unsichtbar. Manche autistische Menschen sind teilweise unsichtbar autistisch. Manche sind manchmal unsichtbar und manchmal sichtbar autistisch. Dies kann an erfolgreichem Maskieren liegen. Es kann auch daran liegen, dass manche autistischen Eigenschaften einfach von Natur aus unsichtbar sind.

Autismus ist ein entwicklungsbedingtes neurologisches Phänomen. Das bedeutet, dass die natürliche Andersartigkeit darin liegt, wie autistische Menschen wahrnehmen und verarbeiten. Dies geschieht innerhalb einer Person und wird nicht immer auch in Verhalten umgesetzt, das für Außenstehende sichtbar ist.

Für diese autistischen Menschen kommt diese Art Unsichtbarkeit mit einer Reihe an spezieller Unterdrückung, Ausgrenzung, Diskriminierung, und Schaden durch Andere.

Unsichtbar autistisch zu sein kommt also vor. Ich glaube jedoch, dass die meisten autistischen Menschen sichtbar autistisch sind – einige subtiler, andere offensichtlicher. Einschließlich vieler, die aktuell als „unsichtbar“ autistisch gelten.

Andere Menschen können sehen, wie autistische Menschen sich bewegen, sprechen, kommunizieren, reagieren, interagieren, stimmen, und mehr.

Menschen bemerken autistische Eigenschaften und Verhalten normalerweise, auch wenn diese relativ subtil sind. Sie sehen autistische Menschen eher nicht als „genau so wie wir“. Menschen erkennen sichtbare autistische Eigenchaften und Verhalten nur oft nicht als autistisch, besonders subtilere. Stattdessen registrieren sie sie als „merkwürdig“, „anders“, oder „unhöflich“ – und behandeln autistische Menschen dafür oft schlecht.

Dies liegt nicht daran, dass Autismus generell unsichtbar ist. Ich glaube, dass er das meist nicht ist.
Es liegt daran, dass Menschen weitreichend Verständnis und Bewusstsein für Autismus fehlen und sie ihn fehlinterpretieren.

Wäre Autismus unsichtbar, könnten Menschen laut Definition autistische Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht sehen. Dies würde bedeuten, dass es sich außerhalb ihrer Kontrolle befände. Es wäre dann nicht die Verantwortung der Menschen, und sie könnten nichts daran ändern.

In der Realität ist es meist möglich, autistische Eigenschaften und Verhalten zu sehen und zu erkennen.
Menschen können kontrollieren, ob sie dazu lernen und versuchen wollen, es besser zu machen.
Es ist die Verantwortung der Menschen, es zu versuchen, damit sie autistische Eigenschaften und Verhalten korrekt erkennen können – oder diese zumindest nicht mehr als „merkwürdig“, „anders“, oder „unhöflich“ sehen, und beginnen, sie als „Vielleicht ist diese Person autistisch.“ zu betrachten.

Es lohnt sich auch zu erwähnen, dass Autismus viele autistische Menschen hypersichtbar macht.

Sie…

…sind nicht wie andere Menschen.
…sind nicht unbemerkbar.
…verschwinden nicht in der Masse.
…sind nicht unsichtbar.

Sie…

…stimmen vokal.
…tragen Gehörschutz.
…stimmen mit Bewegungen.
…tragen Sonnenbrillen.
…benutzen AAC Geräte.
…tragen Druckwesten.
…haben Meltdowns in der Öffentlichkeit.
…tragen Schutzkleidung.
…bolten.
…verletzen sich in der Öffentlichkeit absichtlich oder unabsichtlich selbst.
…sind mit Betreuern unterwegs.
(und mehr)

Behält man dies im Hinterkopf, so ist es schlicht ironisch, autistische Menschen generell „unsichtbar behindert“ zu nennen. Außerdem löscht dies die Realität der hypersichtbaren Behinderung aus. Diese Realität kommt auch mit spezieller Unterdrückung, Ausgrenzung, Diskriminierung, und Schaden durch Andere.

Drei Dinge machen Autismus als „unsichtbare Behinderung“ zu generalisieren problematisch:

1. Es ist faktisch falsch.

2. Es löscht autistische Menschen mit sichtbaren autistischen Eigenschaften und Verhalten aus.

3. Es rechtfertigt, dass Menschen Autismus in autistischen Menschen nicht erkennen.

Ich lade alle nichtautistischen Menschen dazu ein, sich über sichtbare autistische Eigenschaften und Verhalten zu informieren. Und nicht nur über die stereotypen, hypersichtbaren. Seid euch zusätzlich bewusst, dass was euch “komisch” vorkommt möglicherweise Autismus sein könnte – oder eine andere Behinderung. Und schließlich, misshandelt Menschen die anders sind nicht.

Ich lade alle autistischen Menschen dazu ein, zu hinterfragen, ob ihr Autismus für Außenstehende wirklich unsichtbar ist, oder ob er nur unerkannt bleibt. Wenn dein Autismus wirklich für Andere unsichtbar ist, und du den Begriff „unsichtbare Behinderung“ für dich nützlich findest, kannst du ihn natürlich benutzen.

Wir sollten Autismus nur nicht generall als „unsichtbare Behinderung“ bezeichnen.

Stattdessen sollten wir sagen, dass Autismus eine Behinderung ist, die unsichtbar sein kann, jedoch oft sichtbar ist, und von Außenstehenden aufgrund von weit verbreitetem Fehlen von Bewusstsein und Verständnis oft nicht als Autismus erkannt wird.